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Antisemitismus in Zürich: Schimpfen, schmieren, spucken: Anfeindungen gegen Juden häufen sich

Antisemitismus in Zürich: Schimpfen, schmieren, spucken: Anfeindungen gegen Juden häufen sich

Die jüdische Gemeinschaft sorgt sich über die Zunahme von antisemitischen Vorfällen. Manche Kinder tragen Baseballcaps statt Kippas. Gleichzeitig gibt es viel Solidarität in Zürich.

Gerade bestätigt sich ein altes Muster: Gibt es Krieg im Nahen Osten, wird es für Zürcher Jüdinnen und Juden ungemütlich.

Seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober haben die antisemitischen Vorfälle zugenommen. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) sammelt solche Feindseligkeiten und Attacken. Bis zum Donnerstag dieser Woche wurden ihm über 20 in der ganzen Deutschschweiz gemeldet. Betroffen ist auch der Kanton Zürich, wo am meisten jüdische Menschen in der Schweiz leben.

Zu den Vorfällen zählen mehrere Tätlichkeiten, zwei seien im Kanton Zürich geschehen, sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG. «In einem Fall haben zwei Jugendliche einem jüdischen Mann, der eine Kette mit Davidstern trug, auf die Füsse gespuckt und ‹Free Palestine› geschrien.»

Weiter gab es vier antisemitische Beschimpfungen. Unter anderem wurde die jüdische Zürcher FDP-Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel am letzten Montag von zwei Männern als «Scheiss-Jude» beleidigt, als sie auf der Strasse Flyer für ihre Nationalratskandidatur verteilte. Auf dem Social-Media-Kanal X schrieb Rueff-Frenkel danach: «Am schlimmsten war: Alle haben zugeschaut und geschwiegen.»

Laut Jonathan Kreutner kam es in der Deutschschweiz auch zu vier antisemitischen Sprayereien. Zwei davon tauchten Anfang dieser Woche im Zürcher Kreis 7 auf. An einer Hauswand stand «Tot den Juden». Die Parolen wurden wieder übermalt. Zudem haben der SIG, dessen Hauptsitz in Zürich liegt, sowie die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) antisemitische E-Mails und Zuschriften erhalten. Einer dieser Briefe, sagt ICZ-Präsident Jacques Lande, habe mit «Heil Hitler» geendet. Die Stadtpolizei Zürich bestätigt einen Teil dieser Vorfälle.

«Im Jahresmittel bedeuten die über 20 Vorfälle innert weniger als zwei Wochen eine starke Häufung», sagt Jonathan Kreutner. Auch im Vergleich zu vergangenen Konflikten im Nahen Osten falle der Anstieg viel stärker aus. «Dem SIG macht diese Tendenz Sorgen.»

Die Anfeindungen würden die jüdische Gemeinschaft in einem empfindlichen Moment treffen, sagt Kreutner. Die brutalen Terrorangriffe hätten einen Schock ausgelöst, viele Zürcher Jüdinnen und Juden hätten Familienangehörige oder Freunde in Israel, um die sie sich sorgten. «Die Zunahme der antisemitischen Vorfälle und die Diskussionen um Anti-Israel-Demonstrationen verstärken das Unsicherheitsgefühl in Bezug auf die Heimat Schweiz.»

Auch Jacques Lande von der Israelitischen Cultusgemeinde sagt, dass sich viele aus seiner Gemeinde, die rund 2500 Mitglieder zählt, verunsichert fühlten. Einige würden sich deswegen in der Öffentlichkeit vorsichtiger verhalten. «Sie raten zum Beispiel ihren Kindern, ihre Kippa durch ein Baseballcap zu ersetzen.» Ronny Siev, jüdischer Zürcher und Gemeinderat der GLP, erzählt, dass einige seiner Bekannten ihre Halskette mit dem Davidstern derzeit unter der Kleidung tragen würden.

Siev hat kürzlich selbst Anfeindungen erlebt. Er sagt, dass viele Jüdinnen und Juden die jetzigen Ereignisse in einer historischen Dimension betrachteten. «Unsere Vorfahren haben den Holocaust durchgemacht. Meine Grosseltern haben als eine der ganz wenigen in ihren Familien überlebt.» Dieses Trauma schwinge mit bei antisemitischen Vorfällen, sagt Siev. «Man hat automatisch im Hinterkopf, dass das alles wieder passieren könnte.»

Sonja Rueff-Frenkel sagt, dass die aktuellen Anfeindungen sie leider wenig überraschten, höchstens deren Heftigkeit. «Man macht uns Juden in der Schweiz wieder einmal für das verantwortlich, was in Israel passiert.»

 

Sonja Rueff-Frenkel gab kürzlich ein Interview in der NZZ, in dem sie sagte, dass ihr die aktuelle Situation Angst mache. Darauf habe sie mehrere Zuschriften erhalten im Sinne von: «Schön, dass du Angst hast, jetzt weisst du, wie sich die Leute im Gazastreifen fühlen.»

Aufgrund der Krisen in Israel würden sich viele Leute getrauen, ihr antisemitisches Gedankengut zu äussern, sagt Rueff-Frenkel. «Uns bleibt nichts anders übrig, als auszuharren, bis der Nahe Osten nicht mehr so stark im Fokus steht. Das ist frustrierend.»

Zur Frage, ob die Sicherheitsmassnahmen verstärkt wurden, machen die Betroffenen keine Angaben. Bei der Stadtpolizei heisst es, sie patrouilliere häufiger bei jüdischen Einrichtungen. Jacques Lande von der Israelitischen Cultusgemeinde sagt: «Wir schützen unsere Synagoge seit fast 50 Jahren mit Sicherheitspersonal, das war schon immer notwendig.»

 

In Berlin ist es schlimmer

Trotz aller Bedenken: Die für diesen Artikel angefragten jüdischen Zürcherinnen und Zürcher geben an, dass die Situation in Zürich längst nicht so dramatisch sei wie in Deutschland, Frankreich oder England. In mehreren deutschen Städten wurde beispielsweise der Davidstern auf Häuser mit jüdischen Bewohnenden gesprayt, Unbekannte schleuderten Molotowcocktails auf eine Synagoge in Berlin-Mitte. «Das weckt Erinnerungen an die 30er-Jahre», sagt Ronny Siev.

In Zürich halten die Angefragten solche Angriffe derzeit für unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu anderen europäischen Grossstädten gebe es hier auch keine Quartiere, die jüdische Menschen aus Sicherheitsgründen meiden müssten. Körperliche Attacken kämen in der Schweiz ebenfalls vergleichsweise selten vor, sagt Jonathan Kreutner vom SIG.

FDP-Gemeinderat Jehuda Spielman betont bei seiner Beurteilung der Lage das Positive. Spielman ist orthodox, er trägt eine Kippa und gibt sich dadurch immer als jüdisch zu erkennen. «Derzeit bekomme ich auf der Strasse deutlich mehr Mitgefühl zu spüren als Ablehnung», sagt Spielman. Auf einem Spaziergang in Adliswil am letzten Wochenende hätten ihm gleich zwei Passanten ihre Solidarität zugesichert. Das tat auch eine Unbekannte in einem Brief, den sie letzte Woche vor Spielmans Synagoge legte.

Sonja Rueff-Frenkel erzählt, dass sie auf ihren Post über die Anfeindung zahlreiche aufmunternde Reaktionen erhalten habe. «Wildfremde Menschen riefen mich an und boten ihre Hilfe an.» Bei der Israelitischen Cultusgemeinde seien ebenfalls positive Zuschriften eingegangen, sagt Jacuqes Lande.

Manche aus seiner Gemeinde würden jetzt ihre Kippa verstecken, sagt Jehuda Spielman. «Ich finde aber, dass wir sie gerade jetzt tragen sollten, um zu zeigen, dass wir hierhergehören.» Der Grossteil der Zürcher orthodoxen Jüdinnen und Juden würde sich wie üblich auf den Strassen in ihren Quartieren bewegen, sagt Spielman. «Diese gelebte freiheitliche Gesellschaft müssen wir unbedingt erhalten.»

Laut Spielman geht der Antisemitismus in der Schweiz bislang oft von den sozialen Rändern aus, von Betrunkenen etwa oder von Jugendlichen, die sich beweisen müssten. «Die Mitte der Gesellschaft hält zu uns», sagt Spielman. Das beruhige ihn.

Nicht alle schätzen die Situation gleich optimistisch ein. Ronny Siev sagt, dass er «recht viel Indifferenz gegenüber den grausamen Verbrechen der Hamas wahrnehme». Er empfindet auch den Aufruf zur nicht bewilligten «Spontandemo» diesen Freitagabend auf dem Helvetiaplatz als bedrohlich. Auf dem Flyer, der auf Instagram bisher über 2200-mal geteilt worden ist und der aus dem linksautonomen Umfeld stammt, heisst es: «Stoppt den Genozid in Palästina». Siev sagt: Die Juden hätten tatsächlich einen Genozid erlebt. Die Umdrehung sei eine pure antisemitische Verleumdung.

Trotz des Demoverbots, das die Stadt Zürich für dieses Wochenende verhängt hat, fand die Kundgebung statt.

Jonathan Kreutner vom SIG sagt, dass es eine gesellschaftliche Aufgabe sei, sich gegen den Antisemitismus zu stellen. «Widerrede ist der Schlüssel, Schweigen wird oft als Zustimmung missverstanden.»

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