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Orthodoxe Juden in Davos: Selbst der Gemeindepräsident spricht nun von einer «angespannten Situation»

Orthodoxe Juden in Davos: Selbst der Gemeindepräsident spricht nun von einer «angespannten Situation»

Rund 3000 streng gläubige Juden verbringen jeweils ihre Sommerferien in Davos. Tourismus-Chef Reto Branschi beklagte sich kürzlich öffentlich über ihr Benehmen. Seither brodelt es.

Es war eine unappetitliche Schlagzeile, die die Davoser «Gypfel-Zitig» auf der Titelseite servierte. «Ein ‹Scheissdreck› auf der Terrasse», hiess es in grossen Lettern, dazu ein grosses Bild mit brauner Masse und Toilettenpapier. Ein Vermieter einer Ferienwohnung habe die Untat entdeckt, «die unzweifelhaft von einem menschlichen Wesen mit jüdischer Abstammung stammt», so der Wortlaut der Zeitung. Dazu hiess es vom Vermieter: «Es ist die niederträchtigste und primitivste Art, wie man sich für die Gastfreundschaft bedanken kann.» Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG hat mittlerweile Anzeige gegen die Zeitung eingereicht.

Der Artikel ist bloss der Tiefpunkt einer grossen Debatte über das Verhalten der drei- bis viertausend orthodox-jüdischen Feriengäste, die den Sommer in Davos verbringen. Angefeuert hat die Diskussion der Geschäftsführer von Davos Klosters Tourismus, Reto Branschi, der sich in der «Südostschweiz» über das schlechte Benehmen jüdischer Gäste beklagte: Sie würden zum Teil nicht einmal «minimale Formen des Respekts» zeigen und einfachste Regeln missachten: «Dass man sich auf Trottoirs gegenseitig ausweicht, dass zuerst bedient wird, wer zuerst da war oder dass man seinen Abfall nicht einfach wegwirft.» Er erhalte Rückmeldungen von Gästen, «die sich dermassen aufregen, dass sie vorzeitig abreisen.» Auch die Art und Weise, wie sie mit Mitarbeitenden umgingen, führe zu «angespannten und belastenden Situationen».

 

«Es ist normal, dass sich Einzelne nicht korrekt verhalten»

Die Aussagen lösten heftige Reaktionen aus, nicht nur in den Leserbriefspalten der Lokalzeitungen. «Ist in Davos bald kein Platz mehr für orthodoxe Juden?», fragte in Deutschland die «Jüdische Allgemeine Zeitung». Die NZZ titelte: «Konflikt mit Ultraorthodoxen in Davos eskaliert.»

Ist die Situation tatsächlich so schlimm? Oder kommen da Ressentiments gegen Juden zum Vorschein?

Jehuda Spielman ist orthodoxer Jude, sitzt für die FDP im Zürcher Gemeinderat und verbringt seit der Kindheit fast jeden Sommer seine Ferien in Davos. «Der Ort ist sehr kinderfreundlich, hat die nötige Infrastruktur wie Synagogen und koscheres Essen – und es ist sehr schön dort.» Dass es Probleme gibt, stellt er nicht in Abrede. «Wenn 3000 oder 4000 Touristen eines Kulturkreises an einem Ort sind, ist es normal, dass sich einzelne nicht korrekt verhalten.» Durch die Kleidung seien die orthodoxen Juden halt auch sofort erkennbar. Hinzu kämen Vorurteile: «Wenn ein Jude negativ auffällt, sind es die Juden, wenn sonst jemand negativ auffällt, ist es einfach eine Einzelperson.»

Er selber habe mit den Davosern hauptsächlich positive Erfahrungen gemacht. «Sie sind in der Regel sehr nett», sagt er. «Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die gibt es überall.»

Die Äusserungen des Tourismusdirektors ärgern ihn: «Man kann doch nicht alle Angehörige einer Religion für die Verfehlungen Einzelner verantwortlich machen.» Spielman verlangt eine Erklärung vom Landammann, so heisst in Davos der Gemeindepräsident: «Er soll nun Farbe bekennen, ob Davos die orthodoxen Juden noch beherbergen möchte oder nicht.»

Eine Steuerung der Gäste nach Religionszugehörigkeit wäre laut Spielman allerdings kaum durchführbar, weder rechtlich noch praktisch. «Die grosse Mehrheit reist individuell an und mietet ein Ferienhaus über die gängigen Buchungsportale», sagt er. «Es handelt sich nicht um organisierte Gruppenreisen, die man einfach stoppen könnte.» Von den negativen Äusserungen eines Tourismusdirektors liessen sich die ausländischen Touristen nicht abhalten. «Die kriegen von der ganzen Polemik in der Schweiz wohl gar nichts mit.»

Unangenehm sei die Situation vor allem für die Schweizer Juden. «Es geht um einzelne Touristen, die sich nicht benehmen, aber wir sollen nun für sie geradestehen.» Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) stellte in den letzten Jahren Vermittler, die Missverständnisse auf beiden Seiten mildern sollten. Davos Tourismus verzichtet in Zukunft aber auf dieses Angebot, da es «nichts gebracht» habe. Beim SIG zeigt man sich über diesen Entscheid «sehr irritiert» und spricht von einer «Eskalation».

 

«Belastung für Personal und Bevölkerung»

Landammann Philipp Wilhelm, SP, nimmt Tourismusdirektor Branschi in Schutz: «Er hat Konflikte angesprochen, die im Alltag von der Bevölkerung stark wahrgenommen werden.» Auch er erhalte viele Meldungen über inadäquates Verhalten. «Die Sache stellt tatsächlich eine Belastung dar für das Personal und Teile der Bevölkerung», sagt er. Trotzdem ruft er zur Besonnenheit auf: «Die Gefahr von Vorverurteilungen ist gross, die Situation ist bereits angespannt.». Selbstverständlich seien in Davos weiterhin alle Gäste willkommen, «egal welcher Herkunft und Religion».

Oft ist zu hören, das Problem liege darin, dass orthodoxe Juden zu wenig Geld ausgäben. Zum Beispiel gingen sie kaum in Restaurants, da sie nur koscher essen. Wilhelm sagt, das Problem auf diesen Aspekt zu reduzieren, sei zu einfach. «Es gibt auch Reklamationen von Gruppen, die profitieren, zum Beispiel von Wohnungsvermietern.»

 

Gibt es eine Ungleichbehandlung?

Schaut man sich die Leserbriefe und Kommentarspalten der lokalen Zeitungen an, zeigt sich: Die Vorbehalte gegenüber den orthodoxen Gästen scheinen gross zu sein. Viele begrüssen die Intervention Branschis und berichten von eigenen Erlebnissen. Eine Minderheit kann die Klagen überhaupt nicht nachvollziehen und moniert eine Ungleichbehandlung, etwa mit den Eishockey-Fans vom Spengler Cup oder WEF-Gästen, die ebenfalls oft mit ungebührlichem Verhalten auffielen.

Zu diesen Kritikern gehört Hans Vetsch, der als Parteiloser im Davoser Landrat sitzt. In der «Davoser Zeitung» schrieb er, er sei erschüttert darüber, wie über die orthodoxen Juden gesprochen werde. «Nur bei dieser Gruppe werden einzelne Vorfälle zum Problem, und man sieht gar den Ferienort Davos in Gefahr – gehts noch?»

Die Sache wühlt ihn ziemlich auf, wie sich bei einem Telefonanruf zeigt. «Woher sollen wir die 100’000 Logiernächte im Sommer nehmen, wenn wir die jüdischen Gäste vertreiben?», fragt er. Die Aussagen des Tourismusdirektors schadeten der Destination und hätten seiner Meinung nach vom Verwaltungsrat der Organisation abgesegnet werden müssen. «Wir geben pro Jahr mehrere 100’000 Franken für Imagekampagnen aus, dann kommt so etwas!»

Wie es in Davos weitergeht, ist unklar. Immerhin ist man bereit, wieder einen Schritt aufeinander zuzugehen: Am Montag kommt es zu einer Aussprache zwischen dem SIG und Vertretern von Davos Tourismus.

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