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Wie über Gaza reden? Das Dilemma der Schweizer Jüdinnen und Juden

Wie über Gaza reden? Das Dilemma der Schweizer Jüdinnen und Juden

Micheline Calmy-Rey und Ruth Dreifuss fordern vom Bundesrat schärfere Kritik an der Regierung Netanyahu. Derweil sind sich Jüdinnen und Juden uneins, ob man Stellung beziehen soll oder nicht.

Wie über Gaza reden? Das Dilemma der Schweizer Jüdinnen und Juden

Micheline Calmy-Rey und Ruth Dreifuss fordern vom Bundesrat schärfere Kritik an der Regierung Netanyahu. Derweil sind sich Jüdinnen und Juden uneins, ob man Stellung beziehen soll oder nicht.

 

Offenbar hat sich Ignazio Cassis bemüssigt gefühlt, noch einmal Stellung zur Krise in Gaza zu nehmen. Bereits letzte Woche bewilligte der Bundesrat 10 Millionen Franken für die humanitäre Hilfe im besetzten palästinensischen Gebiet. Ausserdem erinnerte der Aussenminister in einer Stellungnahme an die humanitäre Pflicht Israels. Die Besatzungsmacht müsse die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen, «und zwar unparteiisch und ohne Diskriminierung».

 

Nun hat der Bundesrat am Mittwoch erneut ein Communiqué verschickt, in dem er eine Waffenruhe fordert. Die entsprechenden diplomatischen Bemühungen liefen mit Nachdruck, versichert er. Die Stellungnahme ist nicht nur ein Signal an Benjamin Netanyahu, sondern auch an linke Kreise in der Schweiz. Sie üben seit Wochen Druck auf den Bundesrat aus, Israels Regierung schärfer zu kritisieren. Am Mittwoch haben eine Reihe von Persönlichkeiten einen offenen Brief unterzeichnet, unter ihnen die SP-Bundesrätinnen Micheline Calmy-Rey und Ruth Dreifuss.

Sie fordern unter anderem, dass der Bundesrat sich für eine Lösung des Konflikts einsetzt. Diese müsse die Menschenrechte und das Rückkehrrecht achten, die Blockade des Gazastreifens aufheben und illegale Siedlungen beseitigen. Ausserdem solle der Bundesrat Stellung zur «Plausibilität eines Völkermords» in Gaza nehmen. Zu den involvierten Organisationen gehören die Initiative Swiss Humanity, Amnesty International oder die Gruppe Schweiz ohne Armee.

Das Engagement aus dem mehrheitlich linken Milieu ist nicht überraschend. Der Krieg führt aber auch unter Schweizer Jüdinnen und Juden zu Diskussionen. Sie sind mit einem Dilemma konfrontiert, das sie sich nicht ausgesucht haben. Auch wenn sie Schweizer und keine Israeli sind, werden sie dauernd auf die Politik der Regierung Netanyahu angesprochen, manchmal sogar dafür verantwortlich gemacht. Auf der Strasse, im Freundeskreis, auf den sozialen Plattformen und in der medialen Öffentlichkeit.

«Was in Gaza passiert, geht einfach nicht»

Einer, der dieses Dilemma bestens kennt, ist Peter Jossi. Als Co-Präsident der Plattform der liberalen Juden der Schweiz (PLJS) vertritt er die Dachorganisation der drei liberalen jüdischen Gemeinden in Basel, Genf und Zürich. In der Regel äussert sich die PLJS nicht zur Politik in Israel. Doch in Ausnahmesituationen wie dieser sei es notwendig, findet Jossi: «Was in Gaza passiert, geht einfach nicht.»

Am Dienstag hat die PLJS eine Medienmitteilung veröffentlicht. Sie beginnt mit den Worten: «Wir werden den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 nie vergessen.» Doch auch Israels Vorgehen im Gazastreifen sorge «bei den Juden in der Schweiz für Entsetzen». Die PLJS fordert Benjamin Netanyahu und seine Regierung auf, uneingeschränkte Hilfslieferungen in den Gazastreifen zuzulassen.

 

Die Menschen dort sind akut von Hunger bedroht. Nach einer fast dreimonatigen Blockade lässt die israelische Regierung zwar wieder einige Lebensmittel hinein. Auch verteilt die umstrittene neue Stiftung Gaza Humanitarian Foundation (GHF) mit Sitz in der Schweiz seit Montag Hilfsgüter, doch ob sie die zwei Millionen Menschen zu ernähren vermag, ist noch unklar.

 

«Antisemiten missbrauchen Gaza-Krieg»

Vor knapp zwei Wochen hatte sich bereits der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG), der grössere der beiden jüdischen Verbände, zu Wort gemeldet. Er vertritt 13 000 Schweizer Juden. Der SIG-Präsident Ralph Friedländer erinnerte in einer Rede an der Delegiertenversammlung nicht nur an die Schuld der Hamas, die immer noch israelische Geiseln gefangen hält. Er betonte auch die humanitäre Pflicht der israelischen Regierung.

Die liberalen Juden gehen in ihrer Kritik an Netanyahu weiter als der SIG. So zeigte sich die PLJS überzeugt, dass die Fortsetzung der Feindseligkeiten jede Möglichkeit verhindert, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, die für die Sicherheit der Juden in Israel und in der ganzen Welt unerlässlich ist. Dies zeige sich, schreibt sie, bereits an der starken Zunahme antisemitischer Äusserungen und Handlungen.

Jehuda Spielman hat die verschiedenen Meinungsäusserungen mit Unbehagen gelesen. Der Zürcher FDP-Gemeinderat gehört der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft an. «Menschenleben und die Menschenwürde sind im jüdischen Glauben das Wertvollste», sagt Spielman. Er könne nachvollziehen, dass das Leid in Israel und Gaza Entsetzen auslöse. Auch er spüre den Druck, Stellung zu nehmen. Doch dem müsse man widerstehen: «Die Repräsentanten der jüdischen Schweizer tappen in eine Falle, wenn sie sich zum Gaza-Konflikt äussern», sagt Spielman. Für viele verstärke sich dadurch das Narrativ, dass sie in irgendeiner Weise Verantwortung für den Nahen Osten tragen und sich daher von irgendetwas distanzieren müssen. «Jossi oder Friedländer sind schliesslich weder Aussenminister der Schweiz noch Mitarbeitende der israelischen Botschaft», sagt Spielman.

Besonders heikel findet Spielman Aussagen, welche die israelische Politik verantwortlich machen für den hier grassierenden Antisemitismus. Wenn Schweizer Juden die israelische Politik kritisierten, erführen sie nicht weniger Antisemitismus, es sei umgekehrt: «Antisemiten missbrauchen den Gaza-Krieg, um ihren Judenhass auszuleben.»

In diesem Punkt liegen Spielman und Jossi gar nicht so weit auseinander. «Judenhass gibt es immer, egal, was Juden machen», sagt Jossi. Doch wenn Konflikte wie der Krieg in Gaza eskalierten, würden die Antisemiten ihren Hass einfach noch offener ausleben. Gemäss wissenschaftlicher Forschung gab es unmittelbar nach dem Terrorangriff der Hamas besonders viele antisemitische Vorfälle – noch bevor die israelische Regierung überhaupt auf den Angriff reagiert hatte.

 

Die PLJS steht im engen Austausch mit den liberalen jüdischen Partnerorganisationen und vielen weiteren Engagierten in Israel. Jossi ist es in der gegenwärtigen Situation wichtig, Solidarität insbesondere mit den Teilen der israelischen Zivilgesellschaft zu zeigen, die sich für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Beendigung des Krieges und zukunftsfähige Friedenslösungen einsetzten. Beim Statement gehe es allerdings nicht nur um die Wirkung, welche der Konflikt auf die Juden habe, sondern auch um das Leid der Bevölkerung in Gaza.

Es gibt aber auch jüdische Stimmen, die sich schon viel früher viel dezidiertere Statements von jüdischer Seite gewünscht hätten und Antisemitismus nicht nur kritisieren, sondern auch vor seiner Instrumentalisierung durch Israel warnen. Eine solche Stimme ist Yves Kugelmann, der Chefredaktor der jüdischen Zeitschrift «Tachles». «Während zu viele jüdische Organisationen sich an den Konsequenzen des Gaza-Kriegs mit allen internationalen antisemitischen Reaktionen abarbeiten, ignorieren sie die verheerenden Menschenrechtsverletzungen in Gaza (. . .)», schrieb er kürzlich in einem Kommentar.

Mittlerweile dürfte diese Kritik an Schärfe verloren haben. Sogar in Deutschland hat sich der Zentralrat der Juden zur humanitären Notlage in Gaza geäussert, während immer mehr westliche Regierungen bei Netanyahu vorstellig werden.

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