Jehuda Spielman weiss nicht recht, wie ihm geschieht. Als «20 Minuten» Anfang der Woche über seine Gemeinderatskandidatur berichtete, fand die Nachricht schnell den Weg in die jüdischen Onlinemedien. «26-year old Orthodox Jew makes run for Zurich Council seat», schrieb die «Israelische National News» («26-jähriger orthodoxer Jude kandidiert für Zürcher Gemeinderatssitz»). Bis nach Israel und in die USA verbreitete sich die Nachricht. «Es ist verrückt», sagt Spielman. Kürzlich habe ihn der Pöstler gefragt, ob er nicht der Spielman aus der Zeitung sei. Da habe er gewusst: «Ich bin jetzt eine öffentliche Person.»
Spielman steht vor der Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinschaft Zürich (IRGZ) im Kreis 1. Seine rötlichen Haare, die runde Brille und das verschmitzte Lächeln wollen nicht recht ins düstere Regenwetter passen. Hier kommt er regelmässig zum Beten hin. Über dem massiven Tor der Synagoge steht ein hebräischer Spruch. Spielman übersetzt: «Wie schön sind deine Zelte, Jakob, und deine Wohnungen, Israel!»
Thora-Studium in Jerusalem
Auch Spielman zog es schon nach Israel, ins gelobte Land. Der 26-Jährige wuchs mit 12 Geschwistern in Wiedikon auf. Seine Eltern sandten ihn im Teenageralter zum religiösen Studium nach England, in das Heimatland seines Vaters. Danach folgten Lehrjahre an Talmud-Hochschulen in Jerusalem. Erst vor vier Jahren kehrte er von Israel nach Wiedikon zurück, liess sich an der Privatschule Akad Zürich weiterbilden, gründete eine Familie und arbeitet seither als Immobilienbewirtschafter. «Die Jahre im Ausland machten mich schnell erwachsen.»
«Ich informierte zuerst mein Umfeld und den Rabbi – alle waren erfreut von meiner Kandidatur.» Seine Kandidatur ist für die orthodoxe Gemeinde etwas Spezielles. Seit seine Plakate auf der Strasse zu sehen sind, wird er in der Synagoge ständig darauf angesprochen.
«Die jüdische Identität ist ein wichtiges Thema, ich möchte aber nicht darauf reduziert werden.»
Im Zürcher Wahlkampf ist Spielman nur einer unter vielen. Genauer gesagt: Einer von 1075 Kandidatinnen und Kandidaten, die am 13. Februar um einen der 125 Sitze buhlen. Seine Chancen, gewählt zu werden, stehen auf den ersten Blick schlecht: Der politische Newcomer belegt auf der FDP-Wahlliste für Wiedikon bloss Position 13 – und das in einem Quartier, das stark links geprägt ist. Spielman müsste 12 Positionen gutmachen und dabei die beiden amtierenden Mélissa Dufournet oder Flurin Capaul überholen. Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren hätten dafür 200 bis 300 Stimmen gereicht.
Die Stimmen aus dem jüdisch-orthodoxen Lager sind Spielman jedenfalls gewiss. Es geht um einige hundert potenzielle Wähler, die sonst eher nicht wählen würden. Diese Nichtwähler und seine jüdische Herkunft könnten ihm zur Wahl verhelfen. Das weiss der Jungpolitiker. Auf seinem Wahlplakat steht: «Jüdisch. Vorurteil bitte einfügen.» Er möchte durch seine Kandidatur zeigen, dass auch gläubige Juden an der Gesellschaft partizipieren und damit Klischees aus dem Weg räumen. Spielman sagt: «Die jüdische Identität ist ein wichtiges Thema. Ich möchte aber nicht darauf reduziert werden.»
Um diesen Vorteil weiss auch die FDP. Die Partei lanciert demnächst eine Kampagne mit dem Hashtag #gelebteVielfalt. Die Plakate zeigen unter anderem Spielman mit einem hebräischen Spruch, der sich direkt an jüdische Personen richtet. Ein weiteres Plakat zeigt den FDP-Gemeinderat Përparim Avdili. Auf ihn sollen die albanische Gemeinschaft und Muslime ansprechen. Auf Anfrage sagt Avdili, dass er zwar nicht religiös sei, aber sicherlich von den Stimmen aus der albanischen und der muslimischen Gemeinschaft profitiere. «Ich wäre überrascht, wenn dies bei Jehuda nicht so wäre.»
Falls Spielman die Wahl schafft, wäre er im laufenden Jahrhundert erst der dritte orthodoxe Jude im Zürcher Gemeinderat. Weitere Vertreter, die zwar jüdisch, aber nicht religiös sind, wie etwa GLP-Gemeinderat Ronny Siev, nicht mitgezählt. Von 2003 bis 2008 sass Mischa Morgenbesser für die FDP im Gemeinderat. Der Anwalt machte sich vor allem für eine Familienpolitik stark.
Jedidjah Bollag (SVP) hatte im Jahr 2010 ein kurzes Gastspiel, ehe er nach einem halben Jahr aus beruflichen Gründen zurücktrat. Er überraschte vor allem durch sein Engagement für die Minarett-Initiative, die damals vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) vehement bekämpft wurde. Der «SonntagsBlick» nannte ihn den «Tabubrecher». 2014 kandidierte er nochmals, allerdings erfolglos. Auf Anfrage dieser Zeitung wollte sich der heutige Anwalt nicht zu seiner Zeit als Gemeinderat äussern. Er habe damit abgeschlossen.
Drei Männer, dreimal bürgerlich. Für Spielman keine Überraschung: «Die religiöse jüdische Gemeinschaft war schon immer bürgerlich geprägt.» Das klassische Familienmodell habe in der Gemeinde eine starke Tradition. «Ich kenne keinen orthodoxen Juden, der nicht bürgerlich wählt.»
Jonathan Kreutner, SIG-Generalsekretär und Historiker, bestätigt diese Aussage. Das gelte jedoch nur für orthodoxe Juden: «Jüdische Politikerinnen und Politiker zog es in der Regel zur SP und FDP.» Kreutner erinnert an national bekannte jüdische Sozialdemokraten wie die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, den ehemaligen Basler Regierungsrat und aktuellen SIG-Präsidenten Ralph Lewin oder den FDP-Nationalrat François Loeb. Ein weiterer prominenter SP-Politiker mit jüdischem Hintergrund ist Ständerat Daniel Jositsch. «In den letzten Jahren ist auch die GLP zur Heimat einiger jüdischer Politikerinnen und Politiker geworden», sagt Kreutner.
Zu Spielman sagt Kreutner: «Ich freue mich sehr über diese Kandidatur.» Das politische Engagement von Jüdinnen und Juden sei wichtig – «egal, für welche Partei sie antreten». Der Einsatz für das Gemeinwohl ist überaus zu begrüssen. Streng religiöse Jüdinnen und Juden engagieren sich vermutlich weniger aktiv in politischen Ämtern und ihr Politikinteresse ist vermutlich weniger ausgeprägt. «Eine solche Kandidatur ist eine Einladung zur aktiven Mitgestaltung und zu mehr Mitsprache.»
Passion Uetliberg
«Ich werde sicherlich nicht zum religiösen Eiferer», sagt Spielman zu seinen politischen Zielen. Kommunal würde er sich etwa für mehr Grünflächen, bessere Spielplätze und «ein besseres Miteinander von Wanderern und Bikern auf dem Uetliberg» einsetzen, sagt das Mitglied des Uetliberg-Vereins. Ansonsten: Wichtig seien ihm die individuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit – so, wie es in jedem FDP-Programm stehen könnte.
Doch vertragen sich die liberalen Werte mit dem orthodoxen Judentum? In gewissen Fragen müsse er schon einen Spagat machen, sagt Spielman. Ob er die Ehe für alle befürwortet habe? «Nein, aber ich bin für eine eingetragene Partnerschaft. Die Ehe soll nicht staatlich sein, sondern Privatsache.»
Und was ist mit den vielen Festen und Bräuchen des Judentums? Verträgt sich das mit dem politischen Präsenzbetrieb? Er habe seine Parteikollegen schon darauf vorbereitet, sagt Spielman. «An einer samstäglichen Budgetdebatte im Rat kann ich sicher nicht teilnehmen.» Dann ist Sabbat, was für alle gläubigen Juden bedeutet: keine Arbeit und somit auch keine Politik. «Sie nahmen es mit Fassung auf.»