Mehr Migrationshintergrund
Die Namen der Neuen lassen es vermuten: Im Zürcher Stadtparlament sind deutlich mehr Personen mit Migrationshintergrund vertreten als in früheren Jahren. Bei den Bürgerlichen vereinzelt, bei der GLP vermehrt, bei der SP auffällig oft.
Dazu zählt etwa Gadaf Muharemi. Der 36-Jährige kam im Alter von 14 Jahren aus der nordmazedonischen Stadt Tetovo in die Schweiz und wurde für die SP im Kreis 12 ins Parlament gewählt. «Damit hätte ich nie gerechnet», sagt er. Der Teamleiter bei den VBZ interessiert sich schon lange für Politik, hat sich in Gewerkschaften engagiert und neben seinem Vollzeitjob auch noch Politikwissenschaften studiert. Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung C ist ihm ein grosses Anliegen. «Das gibt Zugehörigkeitsgefühl und fördert die Integration», sagt er. Daneben ist ihm die Gleichstellung der Geschlechter bei der Arbeit ein grosses Anliegen. «Was bei den VBZ möglich ist, sollte auch in der ganzen Stadt machbar sein.»
Der Senkrechtstarter
Den wohl grössten Aufstieg legte am Sonntag Jehuda Spielman hin. Er startete vom eigentlich chancenlosen 13. Platz der FDP-Liste im Kreis 3. Mit über 2600 Stimmen schoss er ganz nach oben, mit gut 1000 Stimmen Vorsprung vor dem zweitplatzierten FDPler. Das hat auch mit Spielmans Hintergrund zu tun. Der 26-Jährige gehört zur orthodox-jüdischen Gemeinschaft in Wiedikon. «Die FDP konnte viele Leute aus meiner Community dazugewinnen. Die meisten davon kümmern sich sonst kaum um die Politik und gehen nicht wählen», sagt Spielman. «Es ist wunderschön, dass sich das geändert hat.»
Spielman vermutet, dass er auch Stimmen aus anderen Parteien bekommen habe. «Sie fanden es toll, dass sich jemand aus einer Minderheit zur Wahl stellt, die im Quartier gut sichtbar ist.» Die zahlreichen Medienberichte hätten wohl ebenfalls zu seinem Erfolg beigetragen.
Auch dank Spielman gewann die FDP im Kreis 3 einen zusätzlichen Sitz und 5 Prozent Wahlanteile. Mit ihm ist seit langem wieder ein orthodoxer Jude im Parlament vertreten.
Die Frauen holen auf
2018 waren 41 Frauen ins 125-köpfige Parlament gewählt worden, was einen Frauenanteil von tiefen 32,8 Prozent ausmachte. Am Wochenende haben es 50 Frauen in den Gemeinderat geschafft, was exakt 40 Prozent sind. Diese Quote liegt wiederum etwas tiefer als der Anteil Frauen von 41,1 Prozent, die 2019 ins Zürcher Kantonsparlament gewählt wurden.
Erfolgreiche Jungparteien
Vor allem die linken und grünen Parteien setzten auf junge Kandidierende. Das hat sich oft gelohnt. Vier neue junge Grüne verstärken die grüne Fraktion im Gemeinderat. Auch von den Neugewählten der GLP gehören gleich vier der Jungpartei an.
Etwas weniger erfolgreich waren die Juso. Sie bringen zwei eigene Kandidatinnen ins Parlament, mehrere Mitglieder mit relativ guten Listenplätzen scheiterten. Auch Camille Lothe, Präsidentin der jungen SVP, hat die Wahl knapp nicht geschafft.
Verdrängte ältere Männer
Der Erfolg der Jungen und der Frauen hat Folgen für alle anderen. Vor allem in der SP hat man es nicht leicht, wenn man ein Mann ist, und noch dazu ein nicht so junger. Sechs erfahrene Parlamentarier im Alter von 40 bis 69 Jahren sind auf ihren Listen von Frauen überholt wurden, die zwischen 26 und 40 Jahre alt sind. Vier der Männer wurden abgewählt, zwei konnten sich im Amt halten. Ein 60-jähriger kann sich damit trösten, dass Simone Brander in seinem Kreis wohnt. Sie wurde als Stadträtin gewählt, worauf er nachrutschen dürfte. Dass es sogar heikel sein kann, ein junger SP-Mann zu sein, zeigt ein weiteres Beispiel. In einem Kreis schnappte eine 43-Jährige einem 35-Jährigen den Sitz weg.
Eine negative Frau-Mann-Bilanz weisen die Grünen auf. Zwei Männer überholten in zwei verschiedenen Kreisen zwei Frauen, wobei die eine trotzdem gewählt wurde, die andere aber deshalb den Sitz nicht ergattern konnte.
Bei der FDP ist es eher ungünstig, eine Frau zu sein. In einem Kreis überholte ein Mann zwei Frauen und holte sich so den Sitz. In einem anderen Kreis liess ein Mann sogar sechs Frauen stehen und schnappte sich das Mandat.
In einem anderen Alterssegment spielte sich die Listenplatz-Rochade bei der Mitte ab. Bei der neu formierten Partei überholte ein 68-Jähriger einen 67-Jährigen und eine 52-Jährige und wurde auf deren Kosten gewählt.
Die Bekannten
Einige der Kandidierenden haben sich bereits ausserhalb der parlamentarischen Politik einen Namen gemacht. Das scheint ihnen geholfen zu haben.
Sanija Ameti ist seit knapp einem halben Jahr Präsidentin der Operation Libero, die Juristin führte im letzten Sommer den Kampf gegen das Anti-Terror-Gesetz an. Künftig wird sie für die GLP im Gemeinderat politisieren. Im Wahlkreis 4+5 machte sie das beste Resultat ihrer Partei.
Dem Handicap-Lobbyisten Islam Alijaj (SP) ist die Wahl im Kreis 9 ganz knapp gelungen. Er lag gerade zwei Stimmen vor dem bisherigen Gemeinderat Pascal Lamprecht, der seinen Sitz verliert. Alijaj leidet wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt an einer Zerebralparese. Er setzt sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein, kürzlich hat er eine Initiative gestartet. Der «Beobachter» nominierte ihn letztes Jahr für den Prix Courage.
Die zwei Jungpolitikerinnen Dominik Waser (Grüne) und Serap Kahriman (GLP) scheiterten zwar deutlich beim Einzug in den Stadtrat. Aber die Aufmerksamkeit, die ihr Wahlkampf bescherte, sicherte ihnen einen Sitz im Parlament. Auch der deutlich ältere und bereits bekannte, aber ebenfalls erfolglose Mitte-Stadtratskandidat Josef Widler darf wieder in den Gemeinderat. Er ist bereits Kantonsrat und war schon einmal Gemeinderat.
Die Stimme eines neuen Gemeinderats wird bei seinem ersten Votum manchen bereits bekannt vorkommen. Der frühere Radiomoderator Patrick Hässig erreichte vom sechsten Listenplatz aus das beste Resultat aller GLP-Kandidierenden aus dem Kreis 11. Mittlerweile arbeitet Hässig hauptberuflich als Pflegefachmann.
Namensvetter
Ihre politischen Ansichten könnten unterschiedlicher nicht sein, und doch haben sie eine grosse Gemeinsamkeit: Sie wurden beide auf den Namen Michael Schmid getauft, und sind damit – gemessen an den zehn Einträgen im Telefonbuch der Stadt Zürich – massiv übervertreten im Stadtparlament.
Der neue Michael Schmid vertritt die AL, hat Jahrgang 1985, entwickelt Software für gemeinnützige Organisationen und wohnt in der Innenstadt in einer Wohngemeinschaft. Sein Engagement gilt Velothemen und «allem, was diese Stadt lebenswerter macht, auch für solche mit wenig Einkommen».
Der altgediente Michael Schmid (Jahrgang 1976) ist Rechtsanwalt, sitzt seit 14 Jahren für die Altstadt im Stadtparlament, ist FDP-Fraktionspräsident und damit in allen Themen bewandert. Er sieht deshalb «kaum politische Verwechslungsgefahr». Doch er gesteht: «So nah war ich einem Namensvetter noch nie.» Die beiden kennen sich vom Flyern und von gemeinsamen Wahlveranstaltungen. AL-Schmid sieht noch eine Gemeinsamkeit mit seinem FDP-Namensvetter. «Wir wollen beide konstruktive politische Lösungen finden.»
100’000 Stammwählende
2018 haben 100’513 Zürcherinnen und Zürcher das neue Stadtparlament gewählt. Am vergangenen Sonntag waren es fast genau gleich viele: 100’174 Personen. Da die Zahl der Stimmberechtigten seit 2018 um knapp 5000 Personen zugenommen hat, sank die Wahlbeteiligung von 43,9 auf 42,9 Prozent.
Sie haben am meisten Stimmen erhalten
Um Stimmen-Stadtmeisterin zu werden, ist es ratsam, in einem grossen Kreis zur Wahl zu stehen. Diese Gelegenheit hat die im Kreis 7+8 antretende Freisinnige Yasmine Bourgeois genutzt und sich den Titel der bestgewählten Stadtparlamentarierin gesichert. Die freisinnige Hochburg am Zürichberg ist mit 16 Sitzen aber nicht der grösste Kreis. Sie ist gleich gross wie der Wahlkreis 9 (Altstetten, Albisrieden) und sogar kleiner als der Kreis 11 (Oerlikon, Affoltern, Seebach). Trotzdem schaffen es nur Personen aus den Kreisen 3, 7+8 und 10 in die Top Ten der Bestgewählten – es sind lokale Shootingstars.
Ihnen genügten am wenigsten Stimmen
Der Gewählte mit den wenigsten Stimmen ist Roger Föhn aus dem Kreis 12. Ihm reichten 475 Stimmen. Der Titel des am schlechtesten gewählten Parlamentariers wird dem Stadtratskandidaten aber ziemlich egal sein, hat er doch massgeblich mitgeholfen, seine Partei, die EVP, im Parlament zu behalten. Sie erreichte das 5-Prozent-Quorum nur in Schwamendingen.
Stadtweit am zweitwenigsten Stimmen (600) unter den Gewählten erhielt ebenfalls ein Schwamendinger: Christian Thomas Monn (GLP). Nummer 3 auf dieser Liste ist Michael Schmid (AL, 1+2) mit 632 Stimmen.
Zum Vergleich: Cathrine Elisabeth Pauli (FDP, 7+8) genügten 4654 Stimmen nicht zur (Wieder-)Wahl. Der Grund für diesen Rekord: Pauli ist in einem grossen Kreis angetreten, bei einer Partei, die in diesem Kreis erfolgreich ist.