Am meisten überrascht zeigt sich Spielmans Partei, hatte der ungewöhnliche Kandidat doch dem Freisinn im Kreis 3 einen Stimmenzuwachs von fast 50 Prozent und damit einen dritten Sitz beschert. Die Auswertung der Wahldaten zeigt nun, dass fast 600 Wähler eine FDP-Liste mit nur zwei Namen (Jehuda Spielman) eingelegt haben. «Es sind neue jüdische Wähler, die teils erstmals zur Wahl gingen», sagt der Neu-Parlamentarier. Er habe fast jedes Mitglied seiner orthodoxen Gemeinde angeschrieben und dort an Diskussionen teilgenommen. Geholfen habe ihm auch, dass er Wahlkampfauftritte mit seinen jüdischen Parteifreunden Sonja Rueff-Frenkel und Anthony Goldstein bestreiten konnte.
Im persönlichen Kontakt entpuppt sich Jehuda Spielman als Wundertüte. Erst 26-jährig, bereits verheiratet und Vater eines dreijährigen Sohnes, arbeitet er seit vier Jahren als Immobilienverwalter im Kreis 3. Er ist in einer jüdisch-orthodoxen Familie am Manesseplatz aufgewachsen. Hier wo auch die wunderbare Geschichte von Motti Wolkenbruch im Film von Michael Steiner spielt. Mehr dazu hier. «Na ja, schön gemacht, aber den Film kann man nicht als bare Münze nehmen», sagt Jehuda dazu. Seine Glaubensgemeinschaft könne mit dem Milieu-Film wenig anfangen, «vieles ist überzeichnet, klischéehaft.»
«Viele orthodoxe Juden fühlen sich im politischen Prozess fehl am Platz», ist Jehuda im weiteren überzeugt, ihnen wolle er zeigen, dass sich aktives Mitmachen lohne. Anderseits trauten sich Andersgläubige oder Konfessionslose oft nicht, auf orthodoxe Juden zuzugehen. Auf seinen Wahlplakaten stand: «Ihre Freiheiten. Mein Anliegen.» Deshalb fühle er sich den Jungfreisinnigen verbunden, denen er 2018 beigetreten ist.
In Zürich leben rund 6'000 Juden, ein Drittel davon im Kreis 3. Die meisten zählen zu einer liberalen Gemeinschaft und sind äusserlich kaum erkennbar. Mit ihnen hat sich das weltoffene Zürich längst angefreundet. Anders verhält es sich mit den orthodoxen Gläubigen, die mit ihren Haarlocken, Perücken oder durch ihre Kleidung auffallen. Zu ihnen zählt auch Jehuda Spielman. Nach der Wahl vom Sonntag ist er noch immer überwältigt. Er habe Hunderte von E-Mails, SMS, Anrufe und andere Mitteilungen erhalten. Auch Blumensträusse von ihm unbekannten Personen. Die «Neue Zürcher Zeitung» veröffentlichte vor den Wahlen eine grössere Reportage über ihn. Dort wurde seine Kandidatur als «Balanceakt» bezeichnet: sich für eine liberale Gesellschaft einsetzen, aber selbst ein konservatives Leben führen. Lesen Sie hier das Porträt von Linda Koponen. Dass Wiedikon divers ist, hat das Quartier längst bewiesen. Nach dem Wahlsonntag scheint auch der Balanceakt von Jehuda Spielman gelungen zu sein.