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Die Juden in Zürich feiern ein besonderes Erntedankfest – mit Schweizer Spezialitäten und Palmzweigen aus Ägypten

Die Juden in Zürich feiern ein besonderes Erntedankfest – mit Schweizer Spezialitäten und Palmzweigen aus Ägypten

Ein Einblick in das jüdische Laubhüttenfest.

Hat man erst einmal eine gesehen, fallen sie einem plötzlich überall auf: Seit letzter Woche stehen in den Quartieren Wiedikon und Enge viele kleine Holzhütten auf Balkonen und in Innenhöfen. Die meisten haben ein aufklappbares Dach aus gewelltem Kunststoff. Andere sind nur mit Bambusstäben und Tannenzweigen bedeckt. Aus den Fenstern dringt Licht nach draussen. Jüdische Männer und Frauen gehen rein und raus. Man hört sie singen und lachen.

Was machen sie da?

Enthaltsamkeit üben

Anruf bei Jehuda Spielman, der für die FDP im Zürcher Gemeinderat sitzt und Mitglied der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft in Zürich ist. Spielman verweilt mit seiner Frau und seinem Sohn gerade in Manchester bei der Familie seiner Frau. Sie feiern dort das Laubhüttenfest, auf Hebräisch Sukkot. Auch die Hütten in Zürich wurden für dieses Fest aufgestellt.

Mit dem Fest erinnern sich die Juden an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Auf ihrer Wanderung durch die Wüste nächtigten sie in provisorischen Zelten. Noch heute verlassen jüdisch-orthodoxe Familien symbolisch das eigene, sichere Haus und üben sich während sieben Tagen in Enthaltsamkeit. Jehuda Spielman sagt es so: «Die Laubhütte lehrt uns, den Besitz materieller Güter nicht zu überschätzen.»

Gleichzeitig ist das Laubhüttenfest, welches jeweils im September oder Oktober gefeiert wird, ein Erntedankfest. Auf den Zürcher Strassen sieht man dieser Tage viele jüdische Männer mit langen Ruten in der Hand. Dabei handelt es sich um Palmzweige, die eigens für das Fest zumeist aus Ägypten importiert wurden. Sie werden zusammen mit Myrtenzweigen und Bachweiden zu einer Art Strauss zusammengebunden und mit einem Etrog, einer speziellen Zitrusfrucht, zum Gebet mitgenommen.

Die vier Pflanzen stehen für unterschiedliche Arten des Genusses. Der Etrog symbolisiert Geschmack und Geruch. Die Palmzweige, an denen Datteln wachsen, stehen für den Geschmack, die Myrtenzweige für den Geruch, und die Bachweiden stellen die Abwesenheit von beiden dar. Beim Gebet werden die Pflanzen in vier Himmelsrichtungen geschwenkt. Dies als Ausdruck der Hoffnung auf gutes Wetter und üppigen Ernteertrag.

Essen und trinken unter freiem Himmel

Auch die Eltern von Jehuda Spielman haben eine Laubhütte in ihrem Innenhof aufgestellt. Gleich drei solcher provisorischer Bauten stehen dort eng beieinander vor dem Mehrfamilienhaus. Die Familie Spielman gewährt uns Einblick in die Hütten.

Die erste ist mit üppigen Girlanden, die an Weihnachtsschmuck erinnern, dekoriert. In der Mitte des Raumes steht ein langer Tisch mit weissem Tischtuch und schwarzen Klappstühlen. Die Wände sind mit weissen Tüchern bedeckt, an denen farbige Bilder und Scherenschnitte hängen.

Die Hütte der Spielmans ist schlichter gehalten. Von der Decke baumeln farbige Papierschlangen und Trauben aus Plastik. An den mit weissen Tüchern verkleideten Wänden hängen Bastelarbeiten der Kinder und Bilder von bärtigen Männern. Sieben Zeichnungen symbolisieren prominente Vorväter des Judentums, zum Beispiel Abraham, Moses und König David. An jedem Tag des Laubhüttenfestes wird eine Mahlzeit einem von ihnen gewidmet.

Ein anderes Plakat zeigt die Gebote der Laubhütte: Sie darf nicht zu hoch sein und nicht unter einem Baum stehen. Erlaubt sind aber Hütten auf einem Baum oder gar auf einem Schiff.

«Das Laubhüttenfest ist eine Familienfeier, an der viel gesungen und getanzt wird», sagt Frau Spielman. Von ihren 13 Kindern und 30 Enkelkindern feiern heuer 15 in ihrer Hütte. Jeden Abend kocht sie für ihre Familie drei oder vier Gänge – meist Schweizer Spezialitäten wie Rösti, Spätzli, Schnitzel und Pökelfleisch. Dazu trinken die Erwachsenen Wein. Ein kleiner Schwips sei ausnahmsweise sogar erwünscht, sagt Spielman und schmunzelt.

Gegessen wird in der Hütte – auch wenn es kalt ist, aber nicht, wenn es regnet –, und das Festmahl dauert in der Regel eineinhalb Stunden. Da ziehe man dann eben eine Jacke an, sagt Spielman. So mancher Bekannte habe aber auch einen kleinen Elektroofen in seinem Häuschen. Bei schlechter Witterung kann auch das Dach zugeklappt werden.

Das Fest beginnt und endet mit zwei Ruhetagen. Die Tage dazwischen nutzen viele Familien für Ausflüge, etwa ins Conny-Land oder auf die Flumserberge. Die Männer gehen während des Laubhüttenfestes drei Mal täglich in die Synagoge. Das erste Gebet am Tag dauert bis zu zwei Stunden, jene am Nachmittag und Abend 20 Minuten. Auch Frauen dürften mitgehen, blieben aber meist zu Hause, sagt Frau Spielman. «Ich bin froh, wenn ich mal ausschlafen kann, und am Abend muss ich mich um das Essen kümmern.»

Wichtig bei Wohnungssuche

Für die jüdische Gemeinschaft ist der Sukkot eines der wichtigsten Feste im Jahr. So wichtig, dass es sogar bei der Wahl der Wohnung eine Rolle spielt. Die Laubhütte muss unter freiem Himmel stehen, da die Männer während der Festtage nicht unter einem Dach essen oder schlafen dürfen. Sie übernachten auf Klappbetten in der Hütte. Deshalb braucht man einen Balkon, der nicht überdeckt ist, oder einen Innenhof, wo man die Hütte aufstellen kann.

In England, erzählt Jehuda Spielman, würden Einfamilienhäuser manchmal so gebaut, dass das Dach des Wohnzimmers aufgeklappt werden kann. An der Manessestrasse steht ein Mehrfamilienhaus mit versetzten Balkonen. Die Architekten haben es eigens für das Laubhüttenfest so geplant.

Die Spielmans haben ihre Hütte vor vielen Jahren von einem nichtjüdischen Schreiner, dem ehemaligen SVP-Gemeinderat Bruno Garzotto, im Kreis 4 gekauft. Den interreligiösen Austausch schätzen sie – auch mit den Nachbarn. Der Quartiertreff Enge hat seine Hütte dieses Jahr für alle Interessierten geöffnet. Sie kann noch bis Sonntag besichtigt werden.

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