Plötzlich ist das Velo weg. Diese unangenehme Überraschung kennen viele Zürcherinnen und Zürcher. Das Gefährt fehlt, obwohl es beispielsweise an der Metallstange auf dem Veloparkplatz vor der Haustür festgemacht war.
Erste Reaktion: Es wurde gestohlen. Doch oft ist der Grund ein anderer: Die Stadt hat das Velo abtransportiert und lagert es drei Monate lang in einem Depot. Nur wissen das viele Velofahrende nicht. Oder es ist ihnen egal. Doch dazu später.
Täglich schickt die sogenannte Veloordnung von Entsorgung+Recycling Zürich (ERZ) ihre Suchtruppe los. Diese spürt sogenannte Veloleichen auf. Das sind kaputte Velos, die einfach stehen gelassen wurden. Der Trupp klappert auch Orte mit Veloparkverboten ab, nimmt die fehlbar abgestellten Gefährte mit und lagert sie ein.
Velo weg? Das müssen Sie tun
Die ERZ-Leute haben aber auch alle Velos im Visier, die auf einem der 16 000 öffentlichen Veloabstellplätze stehen. Denn gemäss den städtischen Bestimmungen dürfen die Fahrräder maximal 30 Tage am selben Ort stehen. Ansonsten heisst es in bestem Amtsdeutsch: nicht bewilligter, gesteigerter Gemeingebrauch. Um die Dauerparkierer zu orten, markieren die städtischen Angestellten die Pneus mit blauer Kreidefarbe und kontrollieren nach einem Monat, ob die Kreide noch sichtbar ist. Wurde das Velo bewegt, verschwindet die Markierung. Wenn nicht, ist das Gefährt ein Fall. Und es wird weggeräumt. Die ERZ-Leute sind fleissig. Rund 4000 Velos sammeln sie jährlich ein. Davon waren 3400 auf öffentlichen Parkplätzen abgestellt. Die übrigen 600 wurden entweder an der Hardbrücke entfernt, wo ein strenges 48-Stunden-Regime herrscht. Oder sie standen in Parkverboten, störten an Baustellen oder Festveranstaltungen wie der Street Parade.
2000 Velos gehen nach Afrika
Von den eingesammelten 4000 Velos werden 3000 während der dreimonatigen Frist nicht abgeholt, obwohl die meisten im fahrbaren Zustand sind. Gemäss einer stadträtlichen Antwort auf eine FDP-Anfrage im Gemeinderat ist nur jedes fünfte eingesammelte Fahrrad in einem so schlechten Zustand, dass es nicht mehr zu gebrauchen ist. Die 3000 Velos übergibt ERZ an die Sozialen Einrichtungen und Betriebe (SEB) der Stadt.
Rund 40 Fahrräder gehen an die eigene Velowerkstatt für den Direktverkauf im Inland, etwa 1000 Gefährte werden von Menschen aus der Arbeitsintegration aufgepäppelt. Diese Fahrräder werden darauf für je 5 Franken ans Programm Velafrica übergeben, das die Zweiräder nach Afrika verfrachtet. Knapp 2000 Velos werden von anderen Kooperationspartnern von Velafrica geflickt und gelangen ebenfalls nach Afrika, wenn sie fahrbar sind. Bei rund 500 Velos lohnt sich eine Reparatur nicht mehr. Ihnen werden die wiederverwendbaren Ersatzteile abmontiert , bevor die Überreste entsorgt werden. Die meisten fahrtüchtigen Velos, die auf Zürichs Strassen eingesammelt werden, landen also in Afrika statt bei den Eigentümerinnen und Eigentümern. Ist das ein Indiz für die Spendierfreudigkeit der Zürcherinnen? Sind die Zürcher zu verwöhnt? Oder kennen sie schlicht die 30-Tage-Regel nicht?
Die Redaktion weiss von zwei Fällen, bei denen Letzteres zutrifft. Auch Marita Verbali kennt einen Fall. Deshalb hat die FDP-Gemeinderätin zusammen mit Fraktionskollege Jehuda Spielman den erwähnten Vorstoss eingereicht.
«Ich fahre seit 30 Jahren Velo in der Stadt Zürich und behaupte von mir, gut informiert zu sein», sagt Verbali. «Doch ich kannte die 30-Tage-Regel nicht.» Sie hat zwei Kritikpunkte an die Adresse von ERZ. Erstens werde die Regel nicht genügend kommuniziert. Zweitens sei die Kreidemarkierung am Pneu fragwürdig. «Der blaue Strich geht manchmal nicht weg, obwohl das Velo bewegt wurde.» Verbali schlägt vor, einen Kleber am Sattel anzubringen.
Zettel mit Infos hinterlassen
Auch Markus Knauss ist nicht zufrieden mit der Infopolitik von ERZ. Im privaten Umfeld des Grünen-Gemeinderats ist auch einmal ein Velo abhandengekommen. «Wir haben uns durchgefragt und herausgefunden, dass wir es in einem Depot abholen müssen», erzählt er. «Da standen plötzlich Hunderte Velos vor uns.» Knauss schlägt vor, dass ERZ einen Zettel mit den nötigen Infos an der Stelle hinterlässt, an der das Velo mitgenommen wurde. «Die Stadt hat eine minimale Informationspflicht.»
Ist Aufwand verhältnismässig?
Der grüne Politiker geht davon aus, dass das Problem eher grösser wird als kleiner. «Bald werden wir zu wenige öffentliche Veloparkplätze haben», sagt Knauss. Und dann werde man strenger werden müssen – wenn auch nicht so streng wie teilweise in Amsterdam, wo Velos nach 24 Stunden abtransportiert werden. FDP-Politikerin Verbali kündigt nun einen weiteren Vorstoss im Stadtparlament an. In diesem soll auch die Verhältnismässigkeit der Abräumaktionen thematisiert werden. Markus Knauss findet hingegen die 30-Tage-Regel in Ordnung.
Die Stadt wehrt sich
ERZ wehrt sich gegen die Kritik. Die Velosuche sei in der Stadt «gut bekannt», heisst es in der Antwort auf die parlamentarische Anfrage. Ausserdem finde man das Suchformular bei einer Internetrecherche schnell – davon zeugten 2200 Anfragen im letzten Jahr. Die Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei sei eng, man bearbeite dieselbe Datenbank. Auch die Kritik an der Kreide lässt ERZ-Sprecher Tobias Nussbaum nicht gelten: «Die blaue Kreide bewährt sich», sagt er auf Anfrage. Sie hinterlasse keine bleibenden Spuren am Velo oder auf dem Boden und sei ökologisch unbedenklich. In der Regel werde die Farbe nach wenigen Fahrmetern abgetragen, doch: «Keine Regel ohne Ausnahme.» Für bessere Methoden sei die Stadt jederzeit offen, schiebt Nussbaum nach.
Kosten von 900 000 Franken
Die Bewirtschaftung der 16 000 Veloabstellplätze sei die Kernaufgabe der Veloordnung von ERZ, im Depot an der Bienenstrasse lagerten durchschnittlich 1000 Velos. Die jährlichen Kosten für die Kontrolle und Lagerung betrügen 900 000 Franken, was knapp 60 Franken pro Abstellplatz mache. Potenzial sieht ERZ wiederum bei der Infopolitik bezüglich der 30-Tage-Regel. Sprecher Nussbaum: «Die Stadt klärt zurzeit ab, wie die Regelung besser kommuniziert werden kann.»
Wenn sie vorschriftswidrig abgestellt sind, werden übrigens nicht nur Velos eingesammelt, sondern auch E-Bikes, E-Trottinetts und sogar Töffli. Nur Motorräder mit weissen Kontrollschildern sind vor den Velodetektiven sicher.