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Keine Schlitten für Juden: Mit zehn Massnahmen will Davos solche Skandale in Zukunft vermeiden

Keine Schlitten für Juden: Mit zehn Massnahmen will Davos solche Skandale in Zukunft vermeiden

Die Antisemitismusvorwürfe haben die Bündner Tourismusdestination erschüttert und ihre Reputation beschädigt. Ein früherer Spitzendiplomat hat nun dafür gesorgt, dass alles besser werden soll.

Es ist noch nicht lange her, da stand Davos am Pranger. Im Februar postete der Zürcher FDP-Politiker Jehuda Spielman auf X das Bild eines Aushangs bei der Bergbahn Pischa. Auf Hebräisch stand dort: «Aufgrund verschiedener sehr ärgerlicher Vorfälle, darunter der Diebstahl eines Schlittens, vermieten wir keine Sportgeräte mehr an unsere jüdischen Brüder.»

Die Massnahme sorgte für Empörung, weit über die Schweizer Grenzen hinaus. Auch viele ausländische Medien griffen das Thema auf und stellten die Bergstadt als Hort des Antisemitismus dar.

Nach dem Shitstorm entschuldigte sich der Betreiber des Bergrestaurants: Der Aushang sei sicher falsch formuliert gewesen. Aber der Schaden war angerichtet. Und eine Stellungnahme, die er zuvor veröffentlicht hatte, zeigte, dass es sich bei dem Aushang nicht einfach um einen Ausrutscher gehandelt hatte: Der Ärger über die orthodoxen Feriengäste musste sich lange angestaut haben.

 

«Wo bleibt der Anstand?»

Probleme mit jüdischen Kundinnen und Kunden seien absolut kein Einzelfall, sondern tagtägliche Erfahrungen, stand in der Stellungnahme. Jüdische Gäste würden Schlitten einfach auf der Piste stehen lassen oder kaputtmachen. Hochschwangere Kundinnen wollten nicht einsehen, dass man ihnen keine Geräte vermietet. Und sowieso: Die Juden belegten die besten Plätze im Restaurant und auf der Terrasse, ohne etwas zu konsumieren. «Wo bleibt da der Anstand uns und unseren zahlenden Gästen gegenüber?»

Seit mehreren Jahren gibt es eine Initiative, die solche Vorfälle eigentlich verhindern sollte: das Vermittlungsprojekt Likrat Public des SIG. Schweizer Juden weisen einerseits die Feriengäste darauf hin, welche Verhaltensweisen bei der ansässigen Bevölkerung für Unmut sorgen. Und erklären andererseits den Einheimischen gewisse Eigenheiten der Orthodoxen, die Irritationen auslösen können – etwa, dass die Strenggläubigen in der Bergbeiz niemals einen nichtkoscheren Nussgipfel bestellen würden.

Doch im Sommer 2023, wenige Monate vor dem Schlittenskandal, war es zum Eklat gekommen. Die jüdischen Gäste hielten sich nicht an «minimale Formen des Respekts», wetterte der Davoser Tourismusdirektor Reto Branschi. Er erklärte Likrat Public für gescheitert und kündigte einseitig die Zusammenarbeit mit dem Israelitischen Gemeindebund auf. Denn die ausländischen Orthodoxen nähmen die Schweizer Juden ohnehin nicht ernst.

 

Beziehungen auf dem Tiefpunkt

Damit befanden sich die ohnehin belasteten Beziehungen zwischen der Bündner Tourismusdestination und den Vertretern des Judentums auf dem Tiefpunkt. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), hielt es für «bizarr», ein Dialogprojekt ohne Dialog mit dem Partner zu beenden. Und fand es «sehr, sehr, sehr irritierend», dass Davos offenbar keine jüdischen Gäste mehr wolle.

Gut ein Jahr später klingt es nun wieder ganz anders. Eine Task-Force mit dem Titel «Verständigungsprozess in Davos» hat am Donnerstag einen Katalog von zehn Massnahmen vorgestellt mit dem Ziel, die Konflikte zwischen den Einheimischen und den jüdischen Touristen endlich beizulegen.

Geleitet hat die Task-Force der frühere Spitzendiplomat Michael Ambühl, zusammen mit der Juristin Nora Meier. Mitglieder waren neben Branschi und Kreutner auch der Davoser Landammann Philipp Wilhelm sowie Ralph Lewin, bis vor kurzem Präsident des SIG. Und Jehuda Spielman, der Freisinnige, der den Schlittenaushang publik gemacht hatte.

Im Gespräch mit der NZZ erklärte Branschi vor einigen Monaten das Vorgehen: «Wir organisierten zuerst einen runden Tisch für die Einheimischen. Es nahmen Bauern, Hoteliers, Sporthändler, Bergbahnvertreter und auch Zweitwohnungsbesitzer teil.» Zuerst habe es eine «Chropfleerete» gegeben, aber dann seien Vorschläge für konkrete Massnahmen gekommen. Daraufhin hätten verschiedene Personen der jüdischen Seite weitere Ideen beigesteuert.

 

Vermittlungsprojekt ausgebaut

Von einem Ende des Vermittlungsprojekts Likrat Public ist nun keine Rede mehr, im Gegenteil: Es wird ausgebaut. Ab diesem Sommer kommen noch mehr Vermittler zum Einsatz, die die jüdisch-orthodoxe Lebensweise gut kennen. Die Zahl der «Likratinos» steigt von drei auf zwölf.

Ein Grossteil der anderen neun Massnahmen zielt in eine ähnliche Richtung. Etwa neue Informationsbroschüren und Leitlinien für die Gleichbehandlung aller Gäste. Die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle, die sich in den Sommerwochen um allfällige Konfliktfälle und Missverständnisse kümmern soll. Oder der Aufbau eines Netzwerkes in den Herkunftsländern der orthodoxen Touristen, um diese schon vor der Anreise in die Schweiz zu erreichen.

Daneben gibt es Bemühungen, den Davoserinnen und Davosern ein positiveres Bild des Judentums zu vermitteln – etwa mit einem Liederabend, der sich mit der von Exil und Emigration geprägten jüdischen Geschichte befasst. Oder mit weiteren historischen Arbeiten zur jüdischen Geschichte von Davos. Den Anfang machte eine Studie des Historikers Stefan Keller zur Nazivergangenheit des Kurorts.

 

Kein Englisch mit orthodoxen Gästen

So soll ein Klima des «gegenseitigen Respekts» entstehen. Dass das dringend nötig ist, zeigte nicht nur der Schlittenskandal. Wenige Tage nach diesem kursierte das Schreiben eines Mannes, der in Davos für einen Tourismusbetrieb arbeitete. Der bereits im Sommer 2023 verfasste Brief richtet sich an die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) und enthält happige Vorwürfe: Die Angestellten seien etwa angewiesen worden, orthodoxen Frauen nicht mehr beim Hochtragen eines Kinderwagens zu helfen.

Es habe zudem die Regel gegolten, dass man ausländischen Juden nicht mehr auf Englisch antworten solle. Ein Betrieb habe genau für die Wochen im August, wenn besonders viele Juden nach Davos kommen, einen Zuschlag erhoben. Und ein Restaurant habe extra mit dem Bild eines Schweins für sich geworben, um die Juden abzuschrecken. Die EKR reichte den Brief an den Israelitischen Gemeindebund weiter. Dort geht man von einem strukturellen Problem mit antisemitischen Haltungen in Davos aus und hielt die Vorwürfe für plausibel – konnte aber keine weiteren Zeugen ausfindig machen, die sie bestätigt hätten.

 

Alles, was Orthodoxe brauchen

Davos ist seit rund hundert Jahren eine beliebte Destination für orthodoxe Juden aus dem In- und Ausland. Hier finden sie alles, was sie im Alltag brauchen: Gebetsräume und genügend Glaubensbrüder für das gemeinsame Gebet, rituelle Bäder, koschere Produkte im Supermarkt. So kommen im Sommer jeweils mehrere tausend jüdische Gäste in den Bündner Ferienort. Das ist für die Ladenbesitzer und die Vermieter von Ferienwohnungen ein gutes Geschäft.

Alt sind aber auch die Konflikte. Der orthodoxe Zürcher Jude Simon Bollag, der in den siebziger Jahren zum ersten Mal in Davos Ferien machte, berichtet, schon damals habe es die gleichen gehässigen Debatten gegeben. «Ich habe in Davos eine sehr starke antijüdische Stimmung erlebt», sagte Bollag in einem Gespräch mit der NZZ.

Die Klagen ähneln sich seit Jahrzehnten: Die Juden seien laut, grüssten nicht, machten keinen Platz auf den Wanderwegen, liessen in den Bergen Abfall herumliegen. Ob der Massnahmenkatalog der Task-Force solche Konflikte zum Verschwinden bringen kann, wird sich zeigen.

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