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Der prominente Jude twittert, und dann geht es los

Der prominente Jude twittert, und dann geht es los

Er politisiert als FDP-Gemeinderat und lebt streng­gläubig. Wer ist der Mann, dessen Tweets über Judenhass in Davos oder Zürich die Schweiz aufmischen – und auch mal die Welt erreichen?

Eines Abends im Winter 2024: Jehuda Spielman lehnt sich zu Hause gerade zurück, als das Handy surrt. Ein Bekannter hat ihm ein bemerkenswertes Bild aus Davos geschickt: In einer Bergstation heisst es auf einem Aushang auf Hebräisch, Juden dürften keine Sportgeräte mehr mieten. Es habe ärgerliche Vorfälle gegeben, ein Schlitten sei weggekommen.

Spielman postet das Bild mit einer deutschen Übersetzung auf der Plattform X. Dann geht es los.

Die Nachricht wird innert Stunden hundertfach geteilt, empört zitiert, hässig kommentiert. Landauf, landab berichten die Medien, die Meldung schafft es zu Fox News, BBC und «Spiegel». Spielman hängt von früh bis spät am Telefon, alle wollen ihn sprechen. Das war im vergangenen Februar.

Der Zürcher ist baff. «Ich habe mit einem lokalen Medienecho gerechnet, aber niemals mit einem solchen Medientsunami», sagt er heute.

Jehuda Spielman ist orthodoxer, also streng nach dem Religionsgesetz praktizierender Jude und sitzt seit 2022 für die FDP im Zürcher Gemeinderat. Dort setzt er sich für ausgebaute Spielplätze im Quartier und erneuerbare Energien ein. Vor allem aber ist der 29-Jährige stets im Gespräch, wenn es in Zürich und der Schweiz zu antisemitischen Vorfällen kommt. Der gut vernetzte Politiker berichtet oft als Erster auf X (vormals Twitter) von Vorkommnissen – zuletzt weil in der Roten Fabrik für die Intifada geworben wurde. Für Medienschaffende auf der Suche nach einem Statement oder einer Einordnung ist er eine zuverlässige Anlaufstelle.

 

Mittagessen mit der israelischen Security vor der Tür

Für ein Treffen schlägt Jehuda Spielman ein Mittagessen im Restaurant Florentin vor, eines der wenigen koscheren Lokale, die sich in Zürich an einer Hand abzählen lassen. Es befindet sich im Gebäude der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich im Enge-Quartier. Mitglied ist er dort nicht, sondern in den beiden orthodoxen Gemeinden.

Zum Schutz vor antisemitischen Angriffen ist das Haus streng bewacht. Im Pförtnerhaus sitzen hinter verdunkelten Scheiben aus Israel stammende Wachmänner mit ernsten Gesichtern. Fremde Gäste müssen sich ausweisen und ihre Taschen vorzeigen, Einlass gibt es trotzdem keinen. Man solle draussen auf Mister Spielman warten, ordnet der Sicherheitsdienst sehr bestimmt auf Englisch an. Und, please, nicht vor dem Eingang herumstehen.

Dann ist Jehuda Spielman da: Der Traditionalist mit Twitter-Skills, er gleitet geschmeidig auf dem eigenen E-Trotti heran. Unter dem Helm trägt er eine Kippa, die Kleider sind business casual, im Gesicht eine runde Brille.

«Hier hatte ich auch schon Schwierigkeiten beim Einlass, weil mich der Sicherheitsdienst nicht kannte», sagt er beim Hineingehen wie zur Entschuldigung. Auch die anderen jüdischen Gemeinden – in Zürich gibt es vier – hätten ihre Sicherheitsmassnahmen erhöht, doch das hier sei schon besonders.

 

Opfer der Messerattacke von Zürich ist ein «friedfertiger Mann»

Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober und dem Krieg in Gaza haben Anfeindungen gegen Juden drastisch zugenommen. Zu spüren bekommen dies in Zürich rund 6000 Menschen jüdischen Glaubens, wovon einige Hundert Familien orthodox sind. Trauriger Tiefpunkt war der Messerangriff eines islamistischen Jugendlichen auf einen orthodoxen Mann Anfang Jahr. Spielman schüttelt den Kopf. Er kennt das Opfer – «ein Mann, so friedfertig, wie man ihn sich nur vorstellen kann».

Am Tisch bestellt er Pulled-Beef-Brötchen und grillierte Pouletbrust mit Reis. Der Appetit ist gross, am Abend ist Gemeinderatssitzung, davor Fraktionssitzung. Die Kollegen werden dazwischen gesellig essen gehen, Spielman sich aber auf ein Getränk beschränken. Er nimmt die jüdischen Speisevorschriften genau: «Wenn ich Erdbeeren kaufe, wasche ich jede einzelne sehr gründlich, weil da kleinste Käferchen dran sind, die ich nicht essen will.» Dass ein nicht koscheres Restaurant gleich gewissenhaft vorgeht, darauf will er sich nicht verlassen.

Spielman spricht wie ein Mann, der es gewohnt ist, seine Lebenswelt zu erklären. Er tut es gerne, sieht sich als Vermittler und Brückenbauer.

 

Spielman hat 12 Geschwister, seine Mutter sogar 16

Jehuda Spielman kam 1995 in Zürich zur Welt, als Kind einer Schweizer Mutter und eines englischen Vaters in einer orthodoxen Familie. Als junger Erwachsener studierte er an Talmud-Hochschulen in Gateshead bei Newcastle und Jerusalem, bevor er nach Zürich zurückkehrte und sich an der Akad-Privatschule weiterbildete. Beruflich fasste er Fuss als Immobilienbewirtschafter und Buchhalter.

Die Familie mütterlicherseits lebt schon in der sechsten Generation in Wiedikon. Sein Ururgrossvater wurde 1870 in der Stadt Zürich eingebürgert, kurz nach der rechtlichen Gleichstellung der marginalisierten Juden in der Schweiz, und soll somit zu den allerersten Juden gehört haben, die seit dem Mittelalter dauerhaft hier wohnen durften.

Das Handy klingelt: Jehuda Spielman verlässt den Saal an einer Gemeinderatssitzung.

 

Spielman hat 12 Geschwister, seine Mutter sogar 16. «Ich habe schätzungsweise 200 Cousinen und Cousins ersten Grades. Meine Grosseltern sind vermutlich die Menschen mit den meisten Nachkommen in der Schweiz, ernsthaft.»

Die Familie. Sie stehe im Mittelpunkt des jüdischen Lebens, sagt Spielman, Vater von zwei kleinen Söhnen. Er widmet ihr die Zeit, die ihm neben Vollzeitjob und Gemeinderatsmandat bleibt. Seine Ehepartnerin, die aus Manchester stammt, ist Hausfrau und unterrichtet einige Lektionen Englisch an einer jüdischen Schule.

Sollte sich eines seiner Kinder dereinst vom Glauben abwenden, würde ihn das traurig stimmen, sagt Spielman. Er kenne aber orthodoxe Familien, die nach einem solchen Schritt intakt geblieben seien. Das wäre auch sein Wunsch. Zur Geschichte der Schriftstellerin Deborah Feldman, die ihren Ausstieg aus einer ultraorthodoxen Gemeinschaft im autobiografischen Buch «Unorthodox» beschrieb, sagt er: Die Situation in den USA lasse sich nicht mit jener hier vergleichen. «Dort sind viele Dinge extremer, auch Teile von religiösen Gemeinschaften.»

Früher las Spielman jede Woche ein Buch zu Ende (Geschichte, Politik, Philosophie – Belletristik nie), jetzt liegt ein dicker Stapel Berichte aus der gemeinderätlichen Geschäftsprüfungskommission auf dem Nachttisch. Dass er als strenggläubiger und konservativ lebender Jude in der liberalen FDP politisiert, sei kein Widerspruch, sondern sinnig: «Gerade wir gläubigen Juden haben ein Interesse an einer liberalen Politik, welche die individuelle Freiheit hochhält und alle Menschen so leben lässt, wie sie wollen.» Er kenne deshalb keinen orthodoxen Juden, der nicht bürgerlich wähle.

 

Spielman lud alle ein, von AL bis SVP

Als er anfing, sich ernsthafter für die lokale Politik zu interessieren, bekamen verschiedene Vertreter der Zürcher Gemeinderatsparteien überraschende Post: Der junge Spielman lud sie zu einem Gespräch ein, um herauszufinden, welche Partei am besten zu ihm passt. Die damaligen FDP-Gemeinderäte Raphaël Tschanz und Raphael Kobler überzeugten ihn mit ihrer politischen Linie, aber auch im Stil: «Unsere Partei politisiert anständig und ohne sich im Ton zu vergreifen. Das ist mir wichtig.»

Bei einem dieser privaten Hearings lernte er Walter Angst von der Alternativen Liste kennen, den er bis heute schätzt. Angst, der den Gemeinderat 2023 verliess, erinnert sich an ein «langes und gutes Gespräch mit Jehuda über politische Vorstellungen». Er habe ihn damals und später im Parlament als umgänglichen und sympathischen Mann kennen gelernt, der keiner Diskussion aus dem Weg gehe, sagt Angst.

Zuletzt nahm er Spielman vor allem aus den Medien wahr. Es sei wichtig, dass die Gesellschaft antisemitischen Ausfällen entschlossen entgegentrete und die jüdische Gemeinschaft schütze. Gleichzeitig, sagt Angst mit Blick auf die jüngsten Vorwürfe an die Rote Fabrik, finde er nicht, «dass man jede Veranstaltung verbieten sollte, an der einzelne Aussagen gemacht werden, die man kritisieren kann». Die Gesellschaft müsse einen offenen Diskurs zu Israel und Palästina führen können.

Spielman entgegnet, er könne andere Meinungen und Kritik an Israel gut akzeptieren, solange sie sich im Rahmen des Anstands bewegten. «Aber wenn zu Gewalt aufgerufen oder der 7. Oktober abgefeiert wird, ist für mich eine Grenze überschritten.» Er sei nicht in die Politik gegangen, weil er Jude sei, sondern weil er zu einer freiheitlichen und zukunftsfähigen Stadt beitragen wolle. Als gewählter Gemeinderat sehe er sich aber in der Verantwortung, sich für die jüdische Gemeinschaft zu exponieren und Position zu beziehen.

 

Linker Antisemitismus in Zürich

Spielman kritisierte zuletzt Vorgänge in der Roten Fabrik, in der Zentralwäscherei und am Theater Neumarkt. Haben die Linken und der Kulturbetrieb ein Antisemitismusproblem? Spielman winkt ab. «Es gibt rechten Antisemitismus genauso wie linken. Wir leben aber in einer politisch links dominierten Stadt, darum tritt hier überwiegend der linke Antisemitismus zutage.»

Zu Israels Politik äussert er sich nicht. «Ich bin Gemeinderat von Zürich und nicht von Jerusalem. Mit der Politik von Israel habe ich nichts zu tun.» Es sei schwierig, seine persönliche Haltung jenen gegenüber verständlich zu machen, die nie Erfahrungen mit dem Land gemacht hätten, keine Verwandten dort hätten und nicht vertieft mit der Religionsphilosophie des Judentums versiert seien. Er selbst hat nicht vor, jemals in Israel zu leben. «Das ist kein Land, das meiner Persönlichkeit entspricht. Ich bin Schweizer.»

Am Sabbat gilt: Ruhetag! Spielman im Foyer des Gemeindezentrums der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

 

Während des Gesprächs leuchtet Spielmans Handy immer wieder auf. Er zeigt das Bild eines handgeschriebenen Briefs voller antisemitischer Hassbotschaften, welchen eine jüdische Institution kürzlich im Briefkasten hatte.

Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft melden ihm solche Vorfälle, weil er in der Stadt Behördenmitglieder kennt oder über seine Reichweite in den sozialen Medien etwas bewegen kann. Traditionelles Leben und Twitter, das geht für einen jungen Orthodoxen ganz natürlich nebeneinander her.

 

Am Sabbat macht die Zeitschaltuhr Licht

Die Teller von Jehuda Spielman sind inzwischen leer, die Fotos für die Zeitung gemacht. Weil die Israelitische Cultusgemeinde im Zentrum auch einen Kindergarten führt, strömen zur Mittagszeit viele Kinder hinaus. Den Chindsgi durch die Sicherheitsschleuse verlassen – es ist eine Realität, wie sie Vierjährige in der Schweiz sonst nicht kennen.

Beim Abschied sagt Spielman, bei weiteren Fragen könne man ungeniert anrufen. Ausser am Sabbat: Wenn die Sonne am Freitag untergeht, beginnt der jüdische Ruhetag. Gemäss der Halacha, den jüdischen Gesetzen zur Lebensführung, darf am Sabbat nichts erschaffen und kein Feuer angezündet werden. Nach orthodoxer Auslegung gehört heutzutage dazu, keine elektrisch betriebenen Geräte zu bedienen.

Im Hause Spielman wird deshalb vorgekocht, Zeitschaltuhren steuern das Licht.«Wir widmen uns am Sabbat voll und ganz der Familie und der Gemeinde», sagt Spielman. Ausserhalb der Wohnung trägt Spielman am Sabbat keine Gegenstände, auch nicht in den Hosensäcken. Das Handy ist tabu.

Ist das auch eine Art Digital Detox für ihn? Spielman sagt: «Es liegt mir wirklich fern, für das Judentum zu missionieren. Aber wenn man etwas von uns abschauen will: Einen handyfreien Tag pro Woche kann ich nur empfehlen.»

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